Kick-off-meeting des Projekts „Atlantis“

Kick-off-meeting des Projekts „Atlantis“

Organisatoren
Koordinierungsstelle Ostmittel- und Südosteuropa am Museum Europäischer Kulturen – Staatliche Museen zu Berlin
PLZ
10099
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
03.04.2023 -
Von
Matthias Thaden, Museum Europäischer Kulturen - Staatliche Museen zu Berlin

Im Januar begann der vollständige Abriss des rheinländischen Weilers Lützerath. Nach der Abbaggerung durch den Energiekonzern RWE werden es nur noch Bilder und Erinnerungen sein, die den ehemaligen Bewohner:innen von ihrem Heimatort bleiben. So kontrovers der Fall Lützerath diskutiert wurde und so tragisch der Verlust für die Menschen vor Ort ist – vergleichbare Fälle gibt es in Geschichte und Gegenwart zuhauf: Immer schon wurden Ansiedlungen aus Zwang oder freiwillig aufgegeben. Das Spektrum der Ursachen erstreckt sich von kriegsbedingten Fluchtbewegungen, über Urbanisierung und massive Eingriffe in die Natur im 19. Jahrhundert bis hin zu bevölkerungspolitisch motivierten Umsiedlungen und Vertreibungen in den letzten 100 Jahren. Insbesondere in Ost- und Südosteuropa führten zudem Migrationsbewegungen während und nach dem Ende des Sozialismus zu einer regelrechten Entvölkerung ganzer Landstriche.

Dieses Phänomen näher zu beleuchten war das Ziel des Workshops „Atlantis“, der am 3. April im Museum Europäischer Kulturen in Berlin (MEK) stattfand. Konzipiert als konstituierendes Treffen einer multinationalen und interdisziplinären Projektgruppe, diskutierten Wissenschaftler:innen aus verschiedenen Museen und Universitäten über dieses Thema. In den nächsten zwei Jahren werden sie eine Reihe von Projekten realisieren. An verschiedenen Orten in den Herkunftsländern der Beteiligten (Kroatien, Rumänien, Ungarn, Serbien, Slowenien, Moldau, Bosnien und Herzegowina) sollen modulare Ausstellungen entstehen und eine die Einzelergebnisse zusammenfassende Ausstellung in Berlin, Ulm und Budapest gezeigt werden. Initiiert von der durch die von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien geförderte Koordinierungsstelle Ostmittel- und Südosteuropa (KOMSOE) am MEK soll dabei ein grenzüberschreitender und multiperspektivischer Austausch über Themen wie Vertreibung, Migration, Ökologie und Revitalisierung entstehen. Dabei geht es einerseits um die Kontexte und Hintergründe für Massenabwanderung sowie für das sukzessive Verschwinden von Orten in verschiedenen Ländern Südosteuropas. Neben der historischen Perspektive sieht sich das Projekt andererseits ethnologischen Fragestellungen und Methoden verpflichtet. Durch Feldforschungen und Interviews soll den Menschen nachgespürt werden, die den Verlust ihrer Dörfer erlebten und sich dieser Entwicklung widersetzt haben. Welche Kontakte unterhielten sie weiter? Und welche Objekte, Symbole und kulturellen Praktiken leben auch nach dem Untergang der Orte fort?

In der Einführung und dem ersten der – durchweg zweisprachig gestalteten – Vorträge1 umriss die Initiatorin und Koordinatorin ANDREA VÁNDOR (Berlin) einige dieser grundsätzlichen Perspektiven und Fragestellungen des Projekts. Ein wichtiger Aspekt sei dabei die „Verwundbarkeit ländlicher Regionen“, die sie als zentral für deren ökologische Ausbeutung und ihre letztliche Entvölkerung erachtete. Dass dies keineswegs nur ein osteuropäisches Problem ist, zeigt etwa die „Empty Spain Revolution“ – eine politische Bewegung, die gegen die häufig vorherrschende Ignoranz in den Zentren gegenüber den ländlichen Regionen kämpft. Hinter den Statistiken verbergen sich Geschichten von Regionen und Siedlungen sowie die Schicksale von Menschen. Anhand der 1971 gefluteten Donauinsel „Ada Kaleh“ in Rumänien zeigte Vándor, wie spannend einerseits die Geschichte des Ortes selbst ist, andererseits die Netzwerke, die nach ihrem Untergang entstanden und weitergeführt wurden.

Der Vortrag von JANA STÖXEN (Regensburg/Leipzig) befasste sich mit der Republik Moldau, die in den letzten 30 Jahren einen dramatischen Bevölkerungsrückgang erlebt hat. Durch Geburtenrückgänge, Migration und Landflucht haben viele Dörfer einen Großteil ihrer Bewohner:innen verloren – allein zwölf Orte im Norden des Landes sind so im Laufe der Jahre verschwunden. Im Rahmen ihres Dissertationsprojekts will sie in diesen Regionen Feldforschung betreiben und dabei unter anderem den diasporischen Bezügen von Migrant:innen im Ausland nachgehen.

ANJA MORIC (Ljubljana) befasste sich mit den Gottscheer:innen, einer deutschsprachigen Minderheit auf dem Gebiet des heutigen Sloweniens. In einem historischen Abriss ging es unter anderem um ihre Umsiedlung in die während des Zweiten Weltkriegs von Deutschland besetzte Posavje unter der Parole „Heim ins Reich“. Die Gottschee blieb weitgehend entvölkert zurück. Dies änderte sich auch nach dem Krieg nicht, als die Bewohner:innen dem nun jugoslawischen Slowenien den Rücken kehrten und vor allem nach Kanada migrierten. Moric fokussierte für das Projekt insbesondere auf den Ort Novi Log (dt. Neulag), der im Jahr 1942 von italienischen Truppen komplett zerstört wurde. Sie interessierten vor allem die transnationalen Netzwerke der ehemaligen Bewohner:innen.

Im nächsten Vortrag schilderte ZOLTAN NAGY (Pécs) das Schicksal des verlassenen Ortes Dolina in Südungarn. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der erzwungenen Migration der deutschen Bevölkerung begann der Niedergang des Dorfes. Die letzten Bewohner:innen kehrten ihm 1974 aufgrund der schlechten Infrastruktur den Rücken. Im geplanten Projekt geht es um die Glocke des Ortes, die in einem Brunnen vergraben und vor einigen Jahren wieder ans Tageslicht befördert wurde. Sie steht heute vor der Kirche im nahen Bátaszék und wurde 2021 feierlich geweiht. Verschiedene Narrative, die mit der Glocke und ihrer Wiederverwendung verbunden sind, werden in der geplanten Teilausstellung thematisiert.

Die Dörfer in der ungarischen Baranya waren das Thema im Vortrag von GÁBOR MÁTÉ (Pécs). Anfang der 1970er-Jahre wurden diese vor allem aufgrund der mangelhaften Infrastruktur verlassen; bis in die 1990er-Jahre sank der Anteil der Landbevölkerung in der Region von 73 Prozent auf 43 Prozent. Máté differenzierte anhand von drei Fallbeispielen verschiedene Formen des Dorfniedergangs bzw. seiner Folgen: Beim Dorf Korpád zogen die Bewohner:innen größtenteils zusammen in die Städte und formten dort neue Gemeinschaften. Das Dorf Gyürüfü wurde in den 1980er-Jahren von Großstädter:innen aus Budapest „wiederentdeckt“ und revitalisiert. In Püspökszentlászló wiederum verließen die alten Bewohner:innen ihr Dorf. Seitdem wird es als Ferienort genutzt.

ÁGNES ÓZER (Novi Sad) zeigte Eindrücke aus Terján und Lőrinczfalva in der nördlichen Vojvodina. Heute nicht mehr existent, wird die Erinnerung an die Orte durch verschiedene Praktiken wachgehalten. 1256 erstmals erwähnt, wurde das Dorf Lőrinczfalva in der Revolution 1848 zerstört. Als vier Jahre später Menschen kamen, entstand hier die Ortschaft Terjan. 1954 wurde beschlossen, den abgelegenen Ort zu zerstören und den Menschen „humane Lebensbedingungen“ zu bieten. Im nahegelegenen Csóka wurden den Menschen Parzellen gegeben, wo sie zum Teil mit den Ziegeln ihrer alten Häuser neue bauten. Auch hier, im alten Terjan, wurde eine Glockenhalterung installiert (die Glocke selbst existiert nicht mehr). Einmal im Jahr wird auf freiem Feld an das alte Dorf erinnert.

Was passierte mit den vor allem von Deutschen bewohnten Ortschaften in der serbischen Vojvodina nach dem Zweiten Weltkrieg? Mit diesem geschichtspolitisch brisanten Thema befassten sich MILKA LJUBOJA und LIDIJA SEKULIČ (Sombor) anhand der Orte Gakovo und Kruševlje. Diese wurden nach der deutschen Niederlage als Lager für die örtliche deutsche Bevölkerung genutzt. Vor allem in Gakovo waren viele interniert: Nach der Schließung anderer Lager in der Vojvodina wurden hier ca. 18.000 Personen zusammengezogen. Nach der Schließung des Lagers in Kruševlje im Jahr 1948 kamen Ägäische Mazedonier:innen, die das Dorf jedoch ab den 1960er-Jahren verließen. Während Gakovo nach 1949 neu besiedelt wurde, gab es in Kruševlje keine ausreichende Infrastruktur, so dass die Ortschaft verfiel.

Auch der Vortrag von LEHEL PETI (Cluj-Napoca) behandelte mit der sogenannten „Systematisierung“ ein geschichtspolitisch kontroverses Thema. Als Maßnahme zur Transformation der rumänischen Gesellschaft wurde unter Präsident Nicolae Ceaușescu ab den 1970er-Jahren ein Urbanisierungsprogramm verfolgt mit dem Ziel, die partei- und staatsferneren Lebensbereiche auf dem Land zu zerschlagen. Vor allem in Ungarn bzw. der ungarischen Minderheit in Rumänien existieren bis heute Mythen über die absichtsvolle Zerstörung ungarischer Dörfer, die dabei stattgefunden habe. Der Bevölkerungsrückgang in diesen Regionen sei jedoch nicht so zu begründen, sondern habe eher mit einer generellen Urbanisierung und der Abgelegenheit dieser Regionen zu tun.

Anschließend widmete sich ÁRON BAKOS (Cluj-Napoca/Budapest) in einem methodologisch anregenden Vortrag dem Konzept des „Dark Tourism“. Konkret will er für das Projekt die Geschichte von Derenk erforschen, eines von der polnischen Minderheit in Ungarn bewohnten Ortes. Diese musste das Dorf verlassen, als in den 1930er-Jahren unter dem autoritär regierenden Miklós Horthy Jahren beschlossen wurde, die Region als Jagdterritorium auszuweisen. Bis heute wird der Ort von polnischen Ungar:innen symbolisch genutzt. In grundsätzlicher Absicht stellte Bakos die Frage, wie sich der ethnologische Blick auf diesen und andere Orte des Projekts eigentlich von einer „touristischen Perspektive“ unterscheidet. Wie kann vermieden werden, aus dem Leiden der Opfer ein „Spektakel“ zu machen? Und wie sollte die Forschung auch mit der Politisierung von Gedenken und einer Opferkonkurrenz umgehen?

IMOLA PÜSÖK (Göttingen) stellte ihr Dissertationsprojekt vor, in dem sie die Dörfer Corna bei Roșia Montană und Geamăna in Rumänien miteinander vergleicht. Während die Menschen in ersterem die Zerstörung durch den Kupferabbau verhindern konnten, verschwand Geamăna im Jahr 1978 aus diesem Grund und wurde geflutet. Illustriert von eindrucksvollen Aufnahmen aus ihrer Feldforschung in beiden Orten diskutierte Püsök verschiedene methodologische Konzepte und theoretische Zugriffe. Unter anderem machte sie in diesem Zusammenhang den Begriff des „disappearing“ (im Gegensatz zu „disappeared“) stark, um das Prozesshafte, das Kommen und Gehen der Menschen zu betonen, die das Verschwinden von Orten begleiten und immer wieder neu ausdeuten.

Der gemeinsame Vortrag von LANA PETERNEL, ANA PERINIĆ LEWIS (Zagreb) und LIDIJA NIKOČEVIĆ (Pazin) zeigte ein breites Spektrum von Ursachen für die Entsiedlung verschiedener Regionen in Kroatien. Häufig sind sie wirtschaftlicher Natur, wie etwa auf der Insel Hvar, wo der Tourismus an den Küsten den Menschen ein besseres Einkommen bot. Die Region Banija wiederum steht für die aufeinanderfolgenden und sich gegenseitig verstärkenden Ursachen von Entsiedlung. Die anhaltend schwierige wirtschaftliche Lage sowie Flucht und Vertreibung während des Kroatienkriegs der frühen 1990er-Jahre oder auch das Erdbeben im Jahr 2020 führen bis heute zu Landflucht. Die Migrationsbewegungen der letzten zehn Jahre und eine zunehmende Leere sind vor allem in Slawonien und der Baranja zu beobachten: Die landwirtschaftlich geprägte, einst wohlhabende Region hat in jüngster Zeit rund eine halbe Million meist junger Menschen verloren, die in anderen EU-Ländern ein besseres Leben suchen.

Der Workshop hat insgesamt einige vielversprechende Fallbeispiele geliefert und gezeigt, dass das Thema der verlassenen Orte nicht nur eine Art morbides Interesse wecken kann, sondern sich auch für grundsätzlichere Reflektionen eignet sowie orts- und zeitlich übergreifende Vergleiche zulässt. In einer den Vorträgen folgenden Diskussion ging es abschließend vor allem um die Frage nach einem Zugriff, der alle geplanten Ausstellungen eint. Kann ein Vokabular gefunden werden, das die Entvölkerung infolge extrem heterogener Prozesse wie Vertreibung, Umweltzerstörung oder Strukturschwäche in einen sinnvollen Zusammenhang bringt? Oder ist dies am Ende gar kontraproduktiv, insofern es von dem gemeinsamen Phänomen verlassener oder verschwundener Orte ablenken würde? Vor allem das Gedächtnis an diese Orte und das Entstehen neuer erinnerungspolitischer Praktiken scheinen spannend zu sein. Dies gilt auch für die Frage, inwiefern die verschiedenen Umstände des Verlassens auch verschiedene Netzwerke und Bezugspunkte begünstigt haben. Womöglich werden die Ausstellungsprojekte gerade durch die Heterogenität ihrer Fallbeispiele interessante Antworten auf diese Fragen liefern.

Konferenzübersicht:

Andrea Vándor (Berlin): Project Atlantis – about abandoned settlements, mobility and vulnerable rural regions

Jana Stöxen (Regensburg/Leipzig): Vanished Villages – The Republic of Moldova

Anja Moric (Ljubljana): The case of the Kočevska (Gottschee) region

Zoltán Nagy (Pécs): The history of the Dolina Bell

Gábor Máté (Pécs): In between place and placelessness

Àgnes Òzer (Novi Sad): The disappeared Terjan

Milka Ljuboja, Lidija Sekulič (Novi Sad): The cases of Gakovo and Kruševlje in the Vojvodina

Lehel Peti (Cluj-Napoca): Systematization and/or depopulation of rural communities? Research questions regarding a Transylvanian village

Àron Bakos (Cluj-Napoca/Budapest): The question of the dark heritage and the dark tourism

Imola Püsök (Göttingen): Conversations of a disappearing village

Ana Perinić Lewis, Lana Peternel (Zagreb), Lidija Nikočević (Pazin): Lost regions, town and villages in Croatia

Anmerkung:
1 Aufgrund unterschiedlich gelagerter Sprachkenntnisse wurden die meisten Vorträge auf Englisch und Ungarisch, manche jedoch auch auf Ungarisch und Serbisch/Kroatisch gehalten.

Redaktion
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Region(en)
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Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Englisch, Hungarian, Serbo-Croatian
Sprache des Berichts